Jüdisches Museum Berlin, 4. April bis 27. August 2006

2006 wäre der Schöpfer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, 150 Jahre alt geworden. Anlass genug, ihm und seiner Erfindung eine ungewöhnliche Ausstellung zu widmen. Ausgehend von einer überdimensionalen Geburtstagstorte, die Freuds Lebensstationen in Szene setzt, führt sie den Besucher in ein interaktives Labyrinth psychoanalytischer Grundbegriffe mit eispielen aus Freuds Fallgeschichten. Sie vermitteln Einblicke in die Welt von Zwangsneurose, Kastrationskomplex und Über-Ich und machen deutlich, wie sehr heute fast jeder – korrekt oder nicht, bewusst oder unbewusst – psychoanalytische Denkfiguren verwendet. Dem prominentesten Arbeitsgerät der Psychoanalyse gilt ein besonderes Augenmerk: der Couch. In einer einzigartigen Installation werden Filmsequenzen aus 100 Jahren Kino und Fotografien von Berliner Psychoanalytikercouchen zusammengeführt, um etwas von der Faszination und den Geheimnissen rund um die Psychoanalyse zu vermitteln.
Zur Ausstellung erscheint ein Begleitbuch mit Essays international bekannter Autoren, die die Psychoanalyse und ihre Gegenwart aus verschiedenen Perspektiven kurzweilig und pointiert beleuchten.

Pressestimmen

„Eine Lehre, die ganz aus Sprache ist, ganz wirklich Sprache ist, in eine Ausstellung umzusetzen ist kein einfaches Unterfangen. In Berlin geht es genau darum: nämlich jene talking cure ... zu installieren, ihr gewissermaßen museale Symptome zu verschaffen, durchaus im Sinn der reinen Lehre als sichtbare Anzeichen und Stellvertreter für unbewußte seelische Konflikte.
Eine überdimensionale Geburtstagstorte empfängt den Besucher. Da soll wohl Appetit gemacht werden auf ein Denkgefüge, dessen Faltungen von so manchen Unappetitlichkeiten durchzogen sind. Aber der weiße Sahnekuchen geht ad personam, auf seiner gestuften Decke ist im Schatten einer „150“ Sigmund Freuds Lebenskreis als Stationendrama aufgeführt. ... Indessen hat diese groteske Torte aus Schaumstoff mit ihrem Miniaturpersonal selbst etwas von Traumstoff, von einem Traumsymbol, einem Zeichen, das noch zu deuten wäre.
Hinter der Torte ... hängen und stehen im Raum massive Leuchtstoff-Wortbilder, plakativ und knallig. Mit simplen Hebeln und Mechanismen sind sie interaktiv gemacht, als solle durch die Hintertür die Kindheit wieder hereingeführt werden, in der doch des Subjekts Schicksal geformt wird. ...
Tatsächlich sind die so unmittelbaren wie einleuchtenden Erklärungen zentraler Begriffe in der Ausstellung – wie auch im Glossar des charmanten Katalogbuchs – der Revision der Psychoanalyse durch den französischen Meisterdenker Jaques Lacan zu verdanken. Gewissermaßen unterderhand wird das Freudsche Ur-Denken – das eng verknüpft ist mit seiner Ära und mit dem kleinfamilialen Gefüge als intimem Ort der Produktion von Neurosen, die dann in der Gesellschaft öffentlich herumspuken – in ein System überführt, das den Mensch in die Sphären von Symbolisierung und Imagination einspannt: Man lese die Definition zu „Mutter“ oder „Vater“, zu „Wunsch“ oder „Gott“: Das heißt keineswegs, Freuds Lehre zu verfälschen; es ist kein Bärendienst an ihr, eher ein Liebesdienst. ...
In Daniel Libeskinds dramatischem Bau des Jüdischen Museums stellt die Freud-Schau eine nachgerade heitere Oase dar. Als sollten Schwellenängste im Angesicht einer Theorie abgebaut werden, die nichts so wenig wie komisch ist, – die indessen dem Witz sehr nah steht.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29|04|06

„Auf die aktuelle Freud-Verteufelung ... haben die Ausstellungsmacher Nicola Lepp, Daniel Tyradellis und Annemarie Hürlimann gelassen reagiert. Jene naturwissenschaftliche Kritik, die der Psychoanalyse ihren Mangel an belegbaren Fakten vorhalte, ignoriere Freuds Ansatz, der Kultur und Natur verbinde, sagt Lepp. Seiner Methode gehe es nicht um die Ableitung von Allgemeinerkenntnissen, der Einzelmensch stehe im Mittelpunkt. Die Ausstellung dazu sei eher eine Installation, zeige keine Originalobjekte und konzentriere sich auf die Sprache, das assoziative Medium der Psychoanalyse. ...
Die kitschig-sakrale Hommage des Jüdischen Museums präsentiert einen Seelenfreu(n)d, der hinter allem Elend den Geschlechtstrieb wittert und Gott als kollektive Neurose betrachtet. Aber gleichwohl werden, gegen unser 21. Jahrhundert, die Liebe und ein Menschenbild verteidigt, das mehr enthält als die Summe seiner chemischen Funktionen, mehr als Styropor und Zuckerguss.“
Der Tagesspiegel, 07|04|06


Bilder


Daten und Fakten:

Jüdisches Museum Berlin

07|04|06 – 27|08|06

Besucher: 75.000

Konzept und Realisierung:
Hürlimann + Lepp Ausstellungen

Gestaltung:
Arge Gillmann + Schnegg, Basel


Links:

Jüdisches Museum Berlin


Team:

Idee, Konzeption und Dramaturgie:
Annemarie Hürlimann, Nicola Lepp und Daniel Tyradellis

Ausstellungsleitung:
Nicola Lepp

Wissenschaftliche Projektleitung:
Daniel Tyradellis

Wissenschaftliche Mitarbeit:
Evke Rulffes

Projektkoordination:
Vanessa Offen

Praktikanten:
Jakob Billmayer, Sebastian Quack